Die Musikkassette als Kultmedium zwischen Benjamin Blümchen und Black Metal
Eigentlich kommt die Musikkassette in diesen digitalen Zeiten, in denen sich Musik verlustfrei beliebig oft kopieren oder über das Internet als "Massenware" streamen lässt, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten daher. Denn natürlich kann die Musikkassette mit ihren verschleißenden analogen Magnetbändern technisch schon lange nicht mehr mithalten. Aber die nackte Technik ist halt nur ein Faktor.
Was war der Walkman cool als er raus kam. Raus aus dem Haus, Kassette rein, und hinein in eine andere Welt. Endlich mobil Musik hören! Das gab es davor nicht. Der iPod war später nur die logische Fortführung ins digitale Zeitalter.
Musik war mit der MC endlich aus dem Radio aufnehmbar, leicht von anderen MCs oder LPs kopierbar, nach eigenen Wünschen zusammenstellbar (Mixtapes!), und kostengünstig tauschbar geworden. Gerade das personalisierte Mixtape war eine Liebeserklärung an den eigenen Musikgeschmack, und wurde auch gerne verschenkt an die Angebetete oder den Angebeteten. Das schnöde leere Papier-Inlay lud geradezu dazu ein, sich kreativ auszutoben. Klar, dass gerade unter Jugendlichen rege gemixt, getauscht und kopiert wurde. Dass es beim Kopieren zu Qualitätsverlusten kam, Schwamm drüber! Alleine, dass die Möglichkeit auf einmal bestand, war ein Quantensprung. Für die Künstler selbst bot sich erstmals die Möglichkeit ganz ohne Plattenfirma ihre eigene Musik aufzunehmen und zu verbreiten. Für viele kleine Bands von damals war dies der Startschuss, um so ganz groß zu werden. Mit der MC kamen also viele Revolutionen im Kleinen.
Die CD als erstes digitales Massenmarkt-Medium hat später die Musikkassette verdrängt, und das Internet mit digitaler Distribution der MC den endgültigen Gnadenstoß versetzt. Dennoch ist die MC wieder da! Zwar nicht im großen Stil, und eher als eine Randerscheinung, aber sie ist es. Woran liegt das?
Sicherlich ist ein bisschen wie mit der LP, die nie ganz weg war, aber auch ihre Wiederauferstehung erlebt hat. Die Argumente, die für die LP sprechen, und ihre Daseinsberechtigung untermauern, zählen bei der MC aber nicht. Zum einen wird der LP ein wärmerer Klang als den harschen digitalen Medien zugesprochen. Zum Zweiten macht das riesige Plattencover Musik auch in einer visuellen Dimension erlebbar. Die Musikkassette klingt zwar für viele Ohren auch wärmer, gleichzeitig kämpfen die Aufnahmen mit prinzipbedingtem Hintergrundrauschen und manchmal auch anderen Störgeräuschen. Das hat zwar nostalgisch betrachtet Charme, aber technisch betrachtet ist es vom heutigen Standpunkt natürlich mauer Gurkensalat.
Dennoch wird die Musikkassette gekauft und benutzt. Ja, aber von wem denn nun um Himmels willen? Die einfache Antwort: Hauptsächlich von Fans nischiger Musikszenen, und von Eltern für ihre Kinder. Die drei ???, Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen werden heute ebenso noch als Kassetten aufgelegt wie viele Black, Death, Doom und Thrash Metal Bands ihren Underground-Status damit untermauern, dass es ihre Musik auch, oder sogar nur (!!!) auf Kassette gibt. Konträrer könnte die Hörerschaft des Mediums MC wohl kaum sein.
Dazwischen im kleinen Kassettendschungel: Indie-Labels, leidige Underground-Rapper, Punk-Bands und (un)trendige Popstars wie Billie Eilish und Taylor Swift. Gerade für die junge Generation, die ohne Musikkassetten aufgewachsen ist, sind sie ein Tor aus der digitalen Beliebigkeit heraus. Angefeuert wurde der Trend auch durch retro-romantische Serien wie Stranger Things, in der Musikkassetten eine Schlüsselrolle in der Handlung zukommt. Manche hingegen waren schon immer dabei: Metallica, Iron Maiden, Megadeth, Slayer und Anthrax haben bisher noch jedes Album auch als Musikkassette veröffentlicht.
Eine MC ist günstiger in der Herstellung als eine CD oder gar LP. Was sich natürlich auch bei den Endpreisen bemerkbar macht, die zwischen 10,- und 15,- € pro Album liegen. Günstiger kann man Musik auf einem physischen Medium nicht erstehen.
Wo eine LP als edel, (alt)ehrwürdig und cool gilt, ist bei der Kassette der Trash-Faktor nicht wegzuleugnen. Beide vereint jedoch die Unmöglichkeit, komfortabel zum nächsten Lied zu skippen. Moderne Entschleunigung eben, im alten Gewand. Und eine Gegenbewegung zu lieblosem Streaming und berechnenden Algorithmen, die dir erzählen, was du als Nächstes hören sollst.
Fürs Auto ist eine Musikkassette nahezu ideal, lässt sie sich doch fast blindlings wechseln und einfach ins Handschuhfach werfen. Da geht nichts kaputt. Oldtimer haben oft serienmäßig Kassettendecks verbaut, und fahren zahlreich auf unseren Straßen. Hier haben wir also eine weitere Zielgruppe. Im Gegensatz zur CD sprichwörtlich unerschütterlich verrichtet sie dort ihren Dienst. Schlaglöcher können der Kassette nichts anhaben. Das längste Nachleben hatte die Kassette im Auto.
Wer im Metal etwas auf sich und das eigene Vermächtnis hält, überspringt am besten gleich die LP (kleiner Scherz) und bringt den Backkatalog als Sammleredition auf MC heraus. So geschehen bei Amon Amarth, Emperor, Immortal, Cannibal Corpse, Warbringer, Marduk, Destruction und jetzt ganz aktuell Dark Tranquillity. Und da die meist limitierten MC-Sammlereditionen oft schon nach kurzer Zeit vergriffen sind, eignen sie sich zudem hervorragend als wertsteigernde Anlage.
Doch zurück ans Eingemachte: Warum spielen Musikkassetten gerade im Black, Death, Thrash und Doom Metal eine tragende Rolle? Das ist zum einen historisch begründet, leitet sich aber auch aus dem Selbstverständnis ab.
Im Black Metal kombinieren sich der DIY-Ethos ("true", roh, anti-kommerziell), oft niedrige Produktionskosten, und absichtliche Lo-Fi-Ästhetik. Zudem sind Kassetten Szene-Tradition seit den 80ern/90ern. Auch Old School Death Metal und Grindcore haben eine lange Tradition tape-basierter Aufnahmen. Die frühen Szenen basierten stark auf Tape-Trading. Für Old School Thrash und Teutonic Thrash gilt ähnliches. Die MC passt auch gut zum gemächlichen hypnotischen Doom Metal und verschafft ein intimes Hörerlebnis.
Kurz gesagt: Je roher, undergroundiger und DIY-orientierter das Metal-Genre ist, desto wichtiger ist die Musikkassette. Klingt lustig, ist aber so: Black Metal ist das Kassettengenre Nr. 1 im Metal. Die Kassette dient hier quasi als Authentizitätsbeweis.
Für Musiker, die sich als Außenseiter fühlen, passt eine Kassette eh gut, und unterstreicht die Anti-Mainstream-Mentalität. Wahrscheinlich ist die MC deswegen, und natürlich auch wegen den geringen Produktionskosten, im extremen Metal und Punk nach wie vor groß und beliebt.
Bei vielen kleinen Underground-Labels wie bspw. Nuclear War Now!, Iron Bonehead oder Supreme Chaos gehört die MC mit zum guten Ton. Sie liefern kleine MC-Auflagen in einem Markt, der sich hauptsächlich um Kult dreht. Das Label Darkness Shall Rise kann man schon als Spezialisten bei der liebevollen Zusammenstellung von MC-Boxsets bezeichnen, wurden hier doch schon Größen wie Destruction, Marduk und Venom mit eigenen limitierten MC-Boxsets bedacht.
Dass der Sound bei Musikkassetten schlechter ist als bei anderen Datenträgern, das sehen die Liebhaber eher als Vorteil. Der "schmutzige" Klang und das leichte Rauschen werden mit bewusstem Hören gleichgesetzt, als Stilelement verklärt oder wohlwollend heimelig wahrgenommen.
Mit jedem Abspielen einer MC verschlechtert sich deren Qualität nur unmerklich, aber dauerhaft. Ganz normaler Verschleiß. Der Zahn der Zeit nagt zusätzlich tagein, tagaus am Magnetband. Vielleicht liegt in diesem Zerfall aber auch gerade das Besondere inne, das uns daran erinnert, dass zwar alles Digitale theoretisch unvergänglich ist, dieses Prinzip sich aber nicht mit unseren eigenen Leben vereinbaren lässt. Die Vergänglichkeit analoger Musik auf einer Musikkassette passt in jedem Fall besser zum Konzept des irdischen Lebens, das denselben Weg geht. Und vielleicht weiß man es so auch mehr zu schätzen: das Leben. Und die Musik.